Gemeinnütziger Verein
zur Unterstützung von
Kindern und Notleidenden
auf der ganzen Welt
Unterstützung von Straßenkindern und Leprabetroffenen
Di 02.08.2016 - 10:10, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Tag 9 - 05.07.16 Delhi
Wieder holt uns Sunny ab. Heute fahren wir in einen der Randbezirke Delhis, wo Sunny sein kleines Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige führt. Hier sind die Mieten nicht mehr ganz so hoch wie in der Innenstadt Delhis, trotzdem weiß Sunny nie, ob er die Miete im nächsten Monat noch bezahlen können wird. Er lebt von kleinen Spenden der Menschen in der Umgebung und dem wenigen Geld, das die nur zum Teil vorhandenen Angehörigen bereit sind, zu zahlen. Meistens leben die Angehörigen selbst in so ärmlichen Verhältnissen, dasss sie schwer etwas abgeben können. Viele von Sunnys Patienten lebten auf der Straße und haben niemanden mehr, der sich um sie kümmert. Sunny gibt ihnen eine neue Perspektive im Leben.
Auf dem Weg dorthin, fahren wir wieder einmal an einer Unfallstelle vorbei. Der Kotflüge eines Kleinwagens ist völlig eingedrückt, der Fahrer zwängt sich gerade aus dem kaputten Auto. Viele Menschen stehen schon um das Auto herum und helfen dem Fahrer. Wir fahren weiter und Sunny erzählt missbilligend, wieviele Unfälle er schon miterlebt hat. Trotzdem sind wir beeindruckt, wie scheinbar mühelos sich die indischen Fahrer absprechen und aufeinander achten, obwohl jeder scheinbar nach seinen eigenen Regeln fährt.
Als wir gerade über Hanuman sprechen und Sunny meint, dass dieser nicht mit dem verletzten Fuß und ohne verdientes Geld zurück zu seiner armen Familie möchte, überholen wir ein kleines Tuctuc. Uns fällt eine scheinbar sehr kranke alte Frau auf, die neben zwei anderen älteren Frauen liegt. Sunny sagt sachlich: „She is dead.“ („Sie ist tot.“). Als wir ihn ungläubig ansehen, erklärt er uns, dass sich viele der armen Menschen hier die Kosten für einen Krankenwagen nicht leisten können und daher auch ihre Verstorbenen mit "Taxis" transportieren. „Sicher haben sie so getan, als ob sie nur schwer krank wäre“, meint er, „kein Fahrer würde einen Toten mitnehmen wollen.“
Bald ist das kleine Gefährt aus unserem Blickfeld verschwunden und unsere Gedanken schweifen wieder ab. Wir halten an einer Kreuzung, zwischen deren Beschilderung viele bunte Kleider aufgehängt sind. Am Ende der Straße sehen wir ein einfaches Hüttenviertel - die Kleider gehören sicherlich den Menschen, die dort wohnen. Ein kleines Mädchen in einem leuchtenden gelben Kleid dreht sich lachend um sich selbst.
Nach beinahe einer Stunde Fahrt nur durch Delhis Straßen erreichen wir endlich das Viertel in dem Sunny mit seinen Patienten und freiwilligen Helfern lebt. Zwei bis dreistöckige Gebäude stehen hier dicht aneinander gedrückt und durch die schmalen Gassen dazwischen fällt das Sonnenlicht. Männer sitzen auf Plastikstühlen gemeinsam am Straßenrand und spielen Karten. Kinder und Hunde rennen kreischend durch die Straßen. Frauen in bunten Saris tragen ihre Einkäufe nach Hause oder sitzen auf den Treppenstufen vor den einfachen, unverputzten Häusern. Hier sieht das Leben ganz anders aus als in der engen Innenstadt Delhis, in deren Architektur man oft den westlichen, aus der britischen Kolonialzeit herrührenden, Einfluss sieht. Auch hier sind die Menschen arm, aber sie wirken weniger hoffnungslos, das Leben ist einfach, aber würdevoller.
Wir biegen von der letzten asphaltierten Straße ab und der Wagen holpert durch die sandigen Schlaglöcher der Gassen. Geschickt lenkt Sunny ihn durch die engen Kurven, vorbei an all den Menschen, die oft mitten auf der Straße gehen. Ein Mann sitzt auf dem Boden und Sunny erklärt, dass er dort lebt. Er selbst und einige Nachbarn geben ihm immer wieder etwas zu essen - so überlebt er. Wir beschließen auch ihm später einen Sack Reis zu kaufen, wenn wir für Sunnys Zentrum etwas besorgen.
Um eine letzte Ecke geht es und schon halten wir vor einem einfachen, unscheinbaren Tor. Sunny pfeift und wir können einen Schlüssel klappern hören. Sundra, einer von Sunnys Helfern, lässt uns hinein. Wir stehen direkt in Sunnys "Büro", was ihm auch gleichzeitig als Schlafzimmer dient. Es ist der einzige Raum, den er für sich hat - alles andere teilt er mit seinen Patienten und Helfern. Die gesamte Einrichtung besteht aus einem Schreibtisch mit Stuhl, einem breiten Schrank und einer Liege, auf die wir uns nun setzen. Sunny schaltet den Ventilator ein, denn es ist unglaublich heiß in dem kleinen Raum. Nur dank den Solarplatten, die der FriendCircle WorldHelp beim letzten Aufenthalt spendete, funktioniert er überhaupt. Es gibt immer nur unregelmäßig Strom, oft fällt dieser den ganzen Tag aus. Dann wird es in den kleinen Räumen unerträglich heiß, denn es gibt keine Fenster - außerdem keinen Wind, der etwas Kühle schaffen könnte.
Hanuman kommt in den Raum und begrüßt uns freundlich. Er sieht heute wesentlich besser aus, denn gemeinsam mit Sunny haben wir ihm neue Kleider gekauft und er ist gewaschen und rasiert. Sein Gesicht verzieht sich immer wieder vor Schmerz, nur ganz vorsichtig legt er eine Hand auf das verletzte Bein. Wir betrachten das Röntgenbild von Hanumans Bein und erschrecken. Ein großer Metallstab wurde durch die komplette Länge des Oberschenkels gezogen und ist mit dicken Schrauben und Drähten am Knochen befestigt. Es ist kein Wunder, dass Hanuman solche Schmerzen hat. Der Arzt meinte, dass er mehrere Monate Ruhe brauche, doch das Leben auf der Straße ist hart. Wer nicht läuft, um zu betteln oder etwas zu Essen zu finden, stirbt. Als Hanuman die Hose etwas anhebt sehen wir, was Sunny meint: das verwundete Bein ist stark angeschwollen, fast doppelt so dick wie das Gesunde. Auch der Unterschenkel war gebrochen und ist ähnlich wie der Oberschenkel nun gestützt.
Hanuman, der gerade mal 25 Jahre ist, erzählt uns, dass er nur vier bis fünf Tage im Krankenhaus lag, danach wurde er bereits vor die Tür gesetzt. Dort lag er dann auf dem Krankenhausgelände, einen Monat lang und erhielt zwar die medizinische Behandlung weiterhin, aber im Krankenhaus war einfach kein Platz mehr für einen weiteren nicht zahlenden Patienten. Seitdem lebt er ganz auf der Straße.
Sunny zeigt uns die winzige Küche, in der gerade in großen Töpfen das Abendessen gekocht wird. Hier gibt es keinen Ventilator und durch das Feuer ist es unerträglich heiß hier - wir sind froh, als wir wieder in Sunnys einfachem Büro sitzen. Ein kleiner Welpe kommt ungestüm auf uns zu gerannt und beißt uns spielerisch in die Finger. Er und ein kleiner Affe leben hier bei den ungefähr 40 Männern, die sich rührend um die beiden kümmern.
Wir brechen auf, um einige Nahrungsmittel für das Zentrum zu kaufen. Sunny ist wie immer äußerst bescheiden und so beschließen wir, dass wir genug Mehl, Reis und Linsen für etwa einen Monat kaufen werden. Umgerechnet 270 Euro wechseln den Besitzer und wir fahren mit dem vollgepackten Auto zurück zu der kleinen Unterkunft.
Sunny erzählt uns, dass er sich jeden Tag aufs Neue um die Finanzierung sorgen muss - für 40 ausgewachsene Männer und ehemalige Straßenkinder wie Raja zu sorgen ist eine große Bürde. Oft weiß er selbst nicht, wie sie den nächsten Monat überleben werden. „Zwei Männer haben Tuberkulose“, sagt Sunny, „und wenn dann der Strom ausfällt und alle in dem kleinen Raum sitzen, stecken sich die anderen auch an.“ Kurz ist sein Gesicht von Sorgen gezeichnet. Doch dann lächelt er, als er sich wieder für die Spende der Solarplatten bedankt. Endlich haben sie durchgehend Strom und können daher den größeren von zwei Räumen auch im Sommer nutzen. Bisher war das bei 46 Grad nicht möglich, da die Wellblechdächer die Hitze ungehindert hindurchlassen und der kleinere Raum wenigstens richtige Mauern hat.
Wieder im Zentrum gehen wir durch die Küche, den besagten kleineren Raum und treten dann in den großen Raum, in dem die Männer ihren Tag verbringen. Auf großen, alten Teppichen sitzen bereits alle zusammen und warten auf uns. Mit großen Augen blicken sie uns an und erinnern uns viel eher an eine Gruppe schüchterner Schuljungen als an erwachsene Männer mit Drogenproblemen.
Sie klatschen, als wir sie freundlich begrüßen. Sunny übersetzt uns ihre Worte: „Wir haben lange darauf gewartet, dass ihr wieder kommt, damit wir euch für eure große Hilfe bei dem letzten Besuch danken können.“ Sie beschreiben, dass bereits viele aufgrund der Hitze an Hautkrankheiten litten, die nun endlich abheilen. „Ihr habt unser Stromproblem gelöst“, meint einer und alle anderen klatschen zustimmend. Sunny sagt schlicht: „You have done a miracle for us“ („Ihr habt ein Wunder für uns vollbracht“) und beschreibt damit, wie unmöglich es ihm gewesen wäre, die Solarplatten selbst zu kaufen. Jeden Rupie, den er nicht für die täglichen Mahlzeiten braucht, spart er für Medikamente - seine größte Sorge sind unvorhergesehene Krankheiten. „Für teuere Medikamente kann ich nicht aufkommen“, meint er ernst.
Im Raum hängen einige gelbe Plakate auf denen, neben Verhaltensregeln, ein strenger Tagesplan notiert ist. Nur so funktioniert der Drogen-Entzug - jeder weiß, wann er was zu tun hat und alle helfen sich gegenseitig. Jeweils drei Männer sind beispielsweise immer zum Kochen eingeteilt.
Der kleine Affe sitzt unter dem Stuhl eines alten Mannes und lutscht an seinem Daumen, als Sunny pfeift und das Tier erschrocken hochspringt. „Circle“, („Kreis“) sagt Sunny und alle setzen sich in einen großen Kreis an den Rand der Teppiche. Sie wollen für uns tanzen. „Wir tanzen jede Woche zwei bis drei Mal, alle zusammen“, erklärt uns Sunny, während sich die Männer bereit machen. Neugierig schauen sie uns an, gespannt wie wir auf ihre Tänze reagieren werden.
Ein junger Mann macht den Anfang. Sunny erzählt leise von dessen Abhängigkeit von Schlaftabletten und Alkohol. Der Junge lebte allein mit seiner Mutter, die ihn nicht aus seinem Freundeskreis ziehen konnte und sich daher an Sunny wandte. Begeistert klatschen die anderen ihm zu, als er eine Drehung vollführt. Er lacht. Der nächste Tänzer war früher ein professioneller Tänzer, er wurde oft für Hochzeiten gebucht, bevor auch er in die Abhängigkeit abglitt. Anmutig dreht er seine Hände und setzt seine Füße schnell nacheinander auf.
Ein junger Mann hilft einem älteren auf die Beine, von dem Sunny sagt, dass er auch außergewöhnlich gut tanze. Doch seitdem er bewusstlos durch den Alkohol auf der Straße von einem Bus überfahren wurde, sind seine Beine extrem deformiert. Er kann die Knie nicht mehr beugen und jemand muss ihm beim Aufstehen helfen. Er bewegt die Arme und seine Oberkörper langsam zu der indischen Musik und blickt uns mit ausdrucksstarken Augen an, während er die Beine nur langsam bewegt.
Schließlich stehen alle auf und tanzen gemeinsam, in kleinen Kreisen stehen sie zusammen und jeder bewegt sich zur Musik, wie er es kann und möchte. Viele springen herum und verausgaben sich völlig. Ein junger Mann steht etwas abseits und Sunny muss ihn gesondert auffordern zu tanzen - „That´s Mogli. He always needs an extra invitation“ („Das ist Mogli. Er braucht immer eine Extra-Einladung“), schmunzelt Sunny. Es ist inspirierend wie locker und freundlich Sunny mit allen umgeht. Niemand wird nach seinem Leben auf der Straße mit den Drogen beurteilt, sondern alle nach ihrem Verhalten hier im Zentrum.
Sunny erzählt von seiner Zeit auf der Straße und wir sind beeindruckt von seiner Entwicklung innerhalb der letzten fünf Jahre. Lange unterhalten wir uns noch mit Sunny und den Männern und erst um kurz vor 12 erreichen wir schließlich wieder unser Hotel. Nach einem langen Tag fallen wir müde für einige Stunden ins Bett.
Tag 10 – 06.07.16 Delhi, Frankfurt
Unsere Wecker reißen uns aus dem kurzen Schlaf und erinnern uns daran, dass wir unsere Sachen noch zusammen packen müssen, bevor wir zum Flughafen starten können.
Pünktlich stehen Sunny und Sundar vor der Tür – sie lassen es sich nicht nehmen, uns zum Flughafen zu bringen, obwohl wir mehrmals angeboten haben, ein Taxi zu nehmen. „FriendCircle WorldHelp has done so much for us, and this is all we can do for you“, („Der FriendCircle WorldHelp hat so viel für uns getan und das ist alles, was wir für euch tun können“) meint Sunny. Geschickt lenkt Sundar den Wagen durch das Verkehrschaos auf Delhis Straßen. Bis auf viele Autos, Tuctucs und Fahrräder ist noch nicht viel los in der großen Stadt. Die meisten Menschen am Straßenrand schlafen noch.
Als wir an einer Ampel halten, steht ein großer Laster mit einem Wassertank vor uns. Plötzlich springen einige Obdachlose freudig auf die Straße, kurbeln den Hahn des LKW- Anhängers auf, füllen eilig ihre kleinen Wasserbottiche voll und duschen sich mit dem Wasser. Sie schreien vor Freude und springen um das Wasser herum, tauchen immer wieder ihre Köpfe unter den starken Strahl. Etwas verständnislos schauen wir dem Treiben zu, bis Sunny uns erklärt, dass es den LKW Fahrer nicht kümmert, wenn er ein paar Liter weniger liefert. Lachend rennt ein Mann dem Truck noch ein Stück nach, bis er den Hahn wieder fest zugedreht hat und der Fahrer schließlich Gas gibt.
Sunny und Sundar verabschieden sich herzlich von uns, nicht ohne uns noch einmal für die Hilfe des FriendCircle WorldHelp zu danken. Wir schieben den Trolley mit unserem Gepäck langsam in den Flughafen. Nach acht Stunden Flug landen wir schließlich auf dem Frankfurter Flughafen, wo uns Tobias mit seinem Auto Richtung Bamberg bringt.
DANKE an ALLE Freundinnen und Freunde zu Hause für Euer Dabeisein, Euer Mitfiebern und vor allem für Eure Geduld mit unseren Berichten, mit denen wir immer ein wenig hinterherhinken… ;-)
Fr 22.07.2016 - 10:10, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Tag 8 – 04.07.16 Delhi
Am Morgen laufen wir beinahe an dem kleinen, weißen Auto vorbei, in dem Sunny sitzt und schon auf uns wartet. Während er den Wagen geschickt durch die noch fast leeren Straßen lenkt, erzählen wir ihm von den Ereignissen in Hyderabad. Sunny lacht, als wir die Kobra erwähnen und meint, dass für die meisten Menschen hier jede Schlange eine „Kobra“ ist. „Wenn sie kleiner als eine ausgewachsene Schlange ist, sagen die Leute einfach, dass es eine „junge Kobra“ ist, die noch wächst, aber es gibt Hunderte verschiedener Giftschlangen hier.“
Wieder fahren wir an unzähligen Menschen vorbei, die auf der Straße leben. Die meisten von ihnen schlafen noch. Als wir irgendwann wieder im gewohnten Stau stehen, klopft ein Mann mit Blumen ans Fenster. Sunny beschreibt, wie die Menschen nach einer Feier oder einer Hochzeit die Blumen, die übrig sind, auf eine bestimmte Länge zurechtschneiden und zu hübschen Sträußen binden, um sie weiter verkaufen zu können und so ein paar Rupien für ihre Nahrung dazu verdienen.
Er deutet auf einen riesigen Gebäudekomplex und erklärt uns, dass dies die teuerste Schule in Delhi sei. Vor der Schulmauer sitzen halbbekleidete Kinder mit zerzausten Haaren und betteln. Nie werden sie sich eine derartige Bildung leisten können. Geduldig steht eine Kuh ein paar Meter weiter und wartet auf ihren Besitzer...
Wenige Straßen weiter hängen unzählige rote oder weiße Handtücher über Mauern und Zäunen. Alexandra sagt, dass viele Hotels ihre Handtücher armen Menschen auf der Straße zum Waschen geben – hier hängen sie dann zum Trocknen- mitten auf der Straße.
Wir fahren wieder an den Säulen der Metro vorbei, auf deren Sockel rundherum viele Menschen schlafen. „Oft sterben die Menschen hier auf der Straße, und niemand bemerkt es. Die Leute gehen vorbei und denken, sie schlafen. Irgendwann, wenn sie dann stinken, ruft jemand die Polizei. Dann kommt ein Truck und lädt die Körper auf und bringt sie ins Krematorium“, sagt Sunny leise und eindringlich.
Ein paar Minuten später unterhalten wir uns über die Landflucht in Indien. Die Menschen verlassen ihre Dörfer, weil es dort nur für die wenigsten noch Perspektiven gibt. Sie kommen in die Städte „without thinking“ („ohne Nachzudenken“), meint Sunny – ohne zu wissen wie und wo sie einen Job finden können. Sie übernachten einige Nächte auf der Straße und schnell ist das gesparte Geld verbraucht. Sie geraten an die falschen Leute, nehmen Drogen oder beginnen zu betteln. In einer riesigen Stadt wie Delhi kennt man sich nicht, die Menschen und ihre Sorgen bleiben anonym. „Before one year is over, village people master street life“, („Noch bevor ein Jahr vergangen ist, beherrschen die vorher so unschuldigen Dorfleute das Straßenleben“) sagt Sunny. Alle wollen in die Großstädte, weg vom Land, auf dem sie keine Chancen mehr sehen. Immer enger wird es daher in den Städten, immer mehr Menschen leben wie Sultana in Elendsvierteln oder auf der Straße.
Immer wieder müssen wir jetzt nach dem Weg fragen und Sunny hält einfach kurzerhand neben einer Motorradriksha, auch „Tuktuk“ genannt, kurbelt das Fenster nach unten, pfeift kurz und unterhält sich mit dem anderen Fahrer. Alle behandeln sich wie Brüder, egal, ob sie ein großes Auto oder eine kleine Fahrradriksha fahren und jeder reckt stolz das Kinn, wenn er uns weiterhelfen kann.
Der Himmel über Delhi ist grau, Smog vermischt sich mit dem schlechten Wetter. Wir reden gerade über den Regen, der große schwarze Pfützen auf der Straße bildet, als wir uns langsam durch eine breite, stark befahrene Straße bewegen. Ein Mädchen mit schäbiger Kleidung klopft an unser Fenster, ein kleiner Junge presst Blumen gegen die Scheibe. Mit großen Augen blicken uns beide bittend an. Schnell kurbelt Alexandra ihr Fenster nach unten und Sunny ruft ihnen zu: „ Suppenküche für alle!“
Wir zeigen auf die andere Straßenseite, wo sich einige Essensstände befinden und den beiden ist sofort klar, was zu tun ist. Schnell rufen sie alle ihre Freunde. Ein kleines Mädchen streckt uns zum Dank noch rasch eine Blume ins Auto bevor sie ihren kleinen Bruder an die Hand nimmt und mit ihm geschickt über die viel befahrene Straße rennt.
Als wir endlich auf der anderen Seite ankommen, umringt schon eine Traube wartender Kinder das Auto. Wir steigen aus und schon plappern alle los – „Juice, juice“ sagen sie und deuten auf den „Saft-Stand“, andere haben sich schon ausgesucht, was sie essen möchten. Ein Junge lacht Alexandra an und spricht einige Worte auf hindi. Sunny übersetzt, dass der Junge schon viele Jahre hierher kommt, wenn der FriendCircle WorldHelp die „Suppenküche“ anbietet.
Von überall rasen jetzt die Kinder über die Straßen herbei, ziehen alte Frauen mit sich oder tragen winzige Babys auf dem Arm. Alle sind schlecht gekleidet – oft haben sie einfach lange T-Shirts an oder nur eine Hose. Die Röcke der Mädchen sind verschlissen und sind steif vor Schmutz. Aus den Gesichtern blicken uns ihre großen dunkeln Augen an, viele lachen uns verschmitzt zu.
Ganz ordentlich setzen sie sich der Reihe nach auf die lange Mauer und warten, bis wir die Getränke mit dem Flaschenöffner geöffnet haben und sie ihnen nach einander in die Hand drücken. „Didi, didi“ („Schwester, Schwester“) rufen sie und strecken uns ihre kleinen Hände entgegen. Die Kleinsten bekommen immer zuerst- darauf achten alle.
Glücklich trinken sie in großen Schlucken aus den Glasflaschen und stehen erst auf, als die Flasche leer ist. Immer wieder läuft ein kleines Kind an uns vorbei und stellt ruhig seine leere Flasche in den Kasten, niemand wirft sie einfach auf die Straße. Eng zusammen gedrückt sitzen die Kleinen da und trinken aus ihren Flaschen, wechseln kurz ein paar Worte mit ihren Freunden, lachen uns zu, bevor sie sich wieder ganz ihrem Getränk widmen.
Wir müssen ein wenig warten, bis die Straßenverkäufer eine so große Menge Essen zubereitet haben. Es gibt entweder „Stuffed Parantha“ (Gefüllte Pfannkuchen mit Butter und Chili) oder Naan (Fladenbrot), bzw. Reis mit Dal (Linsen) und Gemüse. Die Kinder und die wenigen Erwachsenen, die sonst hier unter der nahen Brücke leben, bilden jetzt zwei Reihen und jeder wartet sehnsüchtig darauf, dass wir einen großen Teller vor sie stellen. Vor allem die Kleinsten sind zapplig und strecken uns jedes Mal, wenn wir vorbeigehen, ihre Hände entgegen. Wieder und wieder muss Sunny alle beruhigen und versprechen, dass jeder etwas bekommt!
Wenn wir einen vollen Teller überreichen, nehmen die Kinder ihn vorsichtig, oft mit der Hilfe der Erwachsenen in die Hand und gehen langsam zu ihrem Platz zurück, wo sie den Teller unendlich vorsichtig auf den Boden vor sich stellen, damit nichts über den Rand hinausläuft. Glücklich sitzen sie in der Hocke vor ihrer Mahlzeit und tauchen den Löffel in die Linsen oder reißen ein Stück des Naan- Brotes ab und schieben es sich andächtig in den Mund. Niemand spielt mit dem Essen und als ein Parantha versehentlich auf den Boden fällt, wird es schnell aufgehoben und trotzdem gegessen.
Viele kommen zu uns und bitten um einen Nachschlag oder eine zweite Portion, die wir ihnen gerne schenken. Wir haben keine Zeit ein wenig länger bei den essenden Kindern zu verweilen, denn immer laufen wir von einem Stand zum nächsten und verteilen, was uns die Männer dort in die Hände drücken. Der Schweiß steht uns auf der Stirn und läuft uns den Nacken hinunter, doch das ist egal: was zählt ist, dass jeder etwas zu Essen erhält.
Ein kleines Mädchen drängt sich an uns vorbei und stellt ihren leeren Teller zu den anderen auf einen großen Haufen, die bereits ein junger Inder zu waschen beginnt. Als klar wird, dass wir auch noch eine Runde Saft für alle bezahlen, setzen sich wieder alle ordentlich auf das Mäuerchen und warten darauf, dass sie an die Reihe kommen. Sie rufen uns „aam“ zu – denn sie wollen am liebsten Mango. Trotzdem strecken sofort alle ihre Hände in die Höhe, wenn wir mit einem Saft an ihnen vorbei gehen und glücklich greifen die kleinen Finger um die großen Gläser. Manche trinken alles in einem Zug, andere trinken langsam Schluck für Schluck, um jeden Tropfen zu genießen. Säfte gibt es zwar überall, aber sie sind unerschwinglich für die Straßenkinder. Bald haben alle eine kleine weiße Schnute auf der Lippe und lachen glücklich, wenn wir sie ansehen. Oft nehmen sie unsere Hände und drücken sie einfach oder winken uns zu. Über jeden Blick, jede Berührung scheinen sie sich zu freuen.
Ein kleiner Junge in einem riesigen, schmutzigen T-Shirt geht barfuß durch die Pfützen und stampft dabei ein wenig mit den Füßen. Er freut sich, als das Wasser spritzt. Er erinnert uns daran, was Kinder mit drei Jahren daheim gerne tun. Aber er scheint der Einzige zu sein, der die Unbeschwertheit seiner Kindheit noch nicht ganz verloren hat. Lange steht er vor uns, als er als Letzter auf seinen Saft wartet und lächelt uns an. Seine kleinen Zähne blitzen und er legt den Kopf schief, als verstünde er nicht so richtig, was hier vor sich geht. Immer wieder harkt er seine winzigen Finger in unsere und lacht. Vorsichtig nimmt er den großen Becher in seine kleinen Hände und trinkt in langen Zügen.
Nach etwa zwei Stunden verabschieden wir uns von den wenigen Kindern, die noch geblieben sind und sehen schon bald wieder hier und dort ein Mädchen oder einen Jungen mit den sorgsam gebundenen Blumensträußen zwischen den stehenden Autos hindurch gehen, um sie durch die Fensterscheiben hindurch anzubieten.
Wir sind jetzt zu viert im Auto, denn während wir damit beschäftigt waren allen Kindern einen Saft in die Hand zu drücken, hat Sunny sich länger mit einem Mann unterhalten, der auf Alexandra zukam und auf sein Bein deutete. Er humpelt und hat ein riesiges Pflaster auf dem Oberschenkel. Wir beschließen, ihn in ein Krankenhaus zu bringen.
Auf der Fahrt fragen wir ihn nach seiner Geschichte. Sein Name ist Hanuman, er kommt aus einem kleinen Dorf neben der Stadt Gorakhpur im Staat Uttar Pradesh. Als er sagt, dass er erst 25 Jahre alt ist, schauen wir in ungläubig an. Die kurz geschorenen teilweise schon weißen Haare, das verletzte Bein, die schmutzigen Kleider und der ernste Gesichtsausdruck lässt ihn viel älter wirken. Er beschreibt, wie er aus dem Dorf fortgegangen ist, seine Eltern und seine Schwester zurück gelassen hat, in der Hoffnung hier einen guten Job zu finden, um Geld nach Hause zu schicken. Seit sechs Monaten ungefähr lebt er nun schon auf den Straßen Delhis. Seine Familie weiß nichts davon und er schämt sich zu sehr, um einfach nach Hause zurück zu kehren. Seine ältere Schwester kümmert sich jetzt um den Haushalt und die geistig behinderte Mutter; der Vater arbeitet als Schneider – verdient dabei aber nur sehr wenig. Er hat keine Telefonnummer seiner Familie und seitdem er seine Heimat verlassen hat, hat er nichts mehr von ihnen gehört. Vor einem Monat wurde er dann auf der Straße angefahren und hat sich sein Bein so sehr verletzt, dass er lange Zeit im Krankenhaus bleiben musste. Als das Personal dort jedoch merkte, dass niemand ihn besuchen kommt, setzten sie ihn schließlich wieder auf die Straße. Wir nehmen ihn mit zum Röngten und kaufen ihm neue Kleider.
Auf der Rückfahrt zu unserem Hotel ruft Sunny plötzlich: „Könnt ihr die Tankstelle dort hinter dem Tuktuk sehen? Dort habe ich geschlafen.“ Er erzählt uns, dass er oft nachts hierher kam, um ein paar Stunden zu schlafen, als er selbst einige Jahre auf der Straße lebte. Fünf oder sechs Jahre kam er hierher, der Besitzer kannte ihn und ließ ihn hier ausruhen.
Als das Ergebnis der Untersuchung von Hanuman spät am Abend vorliegt, schreibt Sunny uns: „His leg is totally damaged, several times broken. First time in my life I see this kind of X-Ray.“ („Das Bein ist total kaputt, mehrere Male gebrochen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich so ein Röntgen-Bild sehe und ich habe schon viele Brüche meiner Kameraden gesehen.“). Hanuman wird mindestens sechs Monate strenge Bettruhe verordnet und er muss eine Reihe von Medikamenten, u.a. starke Schmerzmittel einnehmen.
Mo 18.07.2016 - 21:34, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Tag 7 – 03.07.16 Hyderabad, Delhi
Um 3.15 Uhr morgens geht es mit Venu zum Flughafen. Müde geben wir unser Gepäck auf, trinken unser letztes Wasser vor der Kontrolle und stellen uns bei den beiden verschiedenen Reihen an. Männer und Frauen gehen hier durch getrennte Sicherheitsscanner. Das Polizei-Aufgebot ist hoch heute, denn erst vor kurzem gab es Terror-Anschläge hier in Hyderabad. Venu und Alexandra arbeiten an Unterlagen während Fenja vor sich hin döst. Nach zwei Stunden im Flugzeug und einer langen Taxifahrt erreichen wir kurz nach neun endlich unser Hotel in Delhi.
Schließlich heißt es Abschied nehmen von Venu für diese Reise und wir unterhalten uns noch einige Zeit über Indien und die Arbeit des FriendCircle WorldHelp. Venu beschreibt rührend, was er über die gemeisame Arbeit denkt: „Wisst ihr, ich habe schon mit vielen Gruppen zusammengearbeitet. Andere Organisationen fahren nicht in die Leprakolonien oder nur weil sie müssen – dann laden sie die Sachen ab und gehen wieder. Niemand setzt sich mit den Leuten hin, trinkt einen Chai und lacht mit ihnen. Diese Menschen haben in ihrem Leben alles verloren – ihr Zuhause, ihre Familie, all die Liebe und Zuneigung, die sie vor der Krankheit erfahren haben. Wenigstens für zwei Stunden haben sie das Gefühl wertgeschätzt zu werden, wichtig zu sein und geliebt zu werden. Das macht den FriendCircle WorldHelp so außergewöhnlich- es ist die Liebe und die Verbindlichkeit den Menschen gegenüber! Es ist nicht die Summe an Geld, die wir in die Kolonien bringen, die ausschließlich, zählt sondern die Liebe und das Mitgefühl.“
Später am Tag beobachten wir eine Müllsammlerin, gehen über die Straße und geben ihr etwas Geld. Überrascht lächelt sie uns glücklich an. Später schenken wir einem kleinen Mädchen einen Saft, den sie sich vom wenigen erbettelten Geld nie leisten könnte. Durch die zottigen Haare sieht es uns mit großen Augen an, während es am Röhrchen zieht und den Saft auch schon gleich danach leergetrunken hat.
Als wir zurück im Hotelzimmer sind und weiter an den Berichten arbeiten, wird es plötzlich stockdunkel - Stromausfall. Zum Glück gehen die Lichter wenige Minuten später wieder an. Lange sitzen wir noch zusammen und bereiten Bilder und Texte vor, während gelegentlich das Licht ausfällt.
Do 14.07.2016 - 21:19, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Tag 6 – 02.07.16 Warangal, Kolonie2, Hyderabad
Gemeinsam mit Meena, Narcy und Venu frühstücken wir Poori Bhaji (aufgeblasene Teigkrapfen mit scharfem Gemüse- in Indien isst man früh immer warm) in dem dunklen Speiseraum des Hotels, bevor wir rasch ins Zimmer zurück laufen, unsere Sachen packen und uns unten in der Eingangshalle treffen. Wir werden heute eine weitere Kolonie besuchen und die Nacht direkt in Hyderabad verbringen, damit wir morgen früh nicht so weit zum Flughafen fahren müssen.
Als wir unsere Zimmer bezahlen möchten können wir nicht glauben, dass die 1000- Rupien- Scheine eines Geldpäckchens nicht auseinander gehen wollen. Wie üblich (was seit einiger Zeit offiziell allerdings nicht mehr erlaubt ist) sind die Scheine zusammen getackert. Diesmal aber so sorgfältig und mit so vielen Klammern versehen, dass es mit den verschiedensten Werkzeugen scheinbar nicht möglich ist, sie zu entfernen. Ca. 15 Minuten lang „arbeitet“ Narcy hart, um das Metall von den Scheinen zu lösen. Am Ende ist es ein Schraubenzieher, der die Lösung bringt...
Wir fahren los zu der Kolonie, die längst nicht so weit außerhalb gelegen ist wie die gestrige. Auch wenn das Dorf viel größer ist, sind die Wege staubig und die Häuser einfach. Seit einigen Aufenthalten arbeitet der FriendCircle WorldHelp hier an einem hochgelegenen Wassertank, der mithilfe von Druck aus Wasserhähnen täglich frisches Wasser bereitstellen soll. Um den hohen Wassertank herum wird außerdem eine betonierte Plattform entstehen, die die Möglichkeit zum Waschen von Körper und Wäsche bietet.
Als wir ankommen, ist der Ingenieur bereits anwesend, um die noch verbliebenen Bauarbeiten zu definieren und die Kosten mit uns durchzusprechen. Viele der alten Menschen bleiben geduldig bei uns sitzen. Die Kinder lachen, sobald wir ihnen zuwinken. Auch hier sitzen einige der Menschen in Rollstühlen, die mit der Hand angetrieben werden, weil ihre Füße sie nicht mehr tragen.
Als wir die Kolonie wieder verlassen, sehen wir einen Mann auf einem Fahrrad – er hat nur noch einen Fuß und fährt, indem er die Pedale halb hinunterdrückt und sofort mit der Unterseite des gesunden Fußes hinaufzieht, damit er sie anschließen wieder zur Hälfte hinunter drücken kann.
Wir machen uns auf den Weg nach Hyderabad. Vor unserem Fenster zieht ein letztes Mal die grüne Landschaft Indiens vorbei und wir sehen Affen über die Straße laufen und Kühe am Straßenrand schlafen.
Als wir am Abend in Hyderabad ankommen, heißt es Abschied nehmen von Meena und Narcy, die uns eine große Hilfe waren während unserer Tage hier.
So 10.07.2016 - 07:50, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Tag 5 – 01.07.16 Warangal, Kolonie
Trost für die Menschen von Jammikunta
Wir sind glücklich, am Morgen zu erfahren, dass es heute die Wetterverhältnisse erlauben, Jammikunta zu besuchen. Den Brunnen werden wir aufgrund der aufgeweichten Erde noch nicht nachbohren können- dies müssen wir auf kommenden Dezember verschieben, wenn die Wetterverhältnisse günstiger sind-, aber zumindest möchten wir den Menschen Mut machen und ihnen mit unserem Kommen zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben.
Am Rand einer kleinen Stadt, anderthalb Stunden von Warangal entfernt, halten wir und treffen auf zwei leprabetroffene Männer der Kolonie, die uns beim Einkauf von Lebensmitteln und Kleidung helfen werden.
Vor einem Laden trinkt ein kleines Schwein graues Wasser, das in einer Rinne an der Straße entlang abgeleitet wird. Es verschwindet, als wir auf es zulaufen. Ein anderes rennt in den Laden nebenan, klaut sich rasch eine große Zwiebel aus einem Korb und ehe der Besitzer reagieren kann läuft es schmatzend wieder davon. Eine Kuh wartet ebenfalls geduldig vor der Treppe des gleichen Geschäfts, bis ein Mann ihr ein paar Zwiebeln auf eine Stufe legt, die sie dann geruhsam verspeist.
Wir betreten ein Stoffgeschäft, ziehen unsere Schuhe aus und werden in den hinteren Raum gebeten. Auf Matten sitzend sind wir umgeben von Stoffen – in jeder erdenklichen Farbe, Stoffqualität und mehr Mustern, als wir uns je vorstellen könnten. Manche glitzern im Licht unseres Kamerablitzes, andere haben aufwändige Stickereien oder sind von zarter, durchscheinender Qualität. Die Frauen des Dorfes sollen jeweils einen Sari bekommen und die Männer eine Hose und ein Hemd. Meena und Venu prüfen Preise und Qualität der Stoffe.
„Indien ist bunt“, meint Alexandra als Fenja sich begeistert über all die Farben äußert und beschreibt, dass nicht nur die traditionellen Kleider Indien so bunt machen sondern auch all die vielen Kontraste zwischen Alt und Jung, Modern und Traditionell und leider auch zwischen Arm und Reich.
Langsam stapeln sich die flachen grünen Kartons um uns herum und bald stehen wir auf und wechseln in den vorderen Raum. Sorgfältig werden hier die dunklen Stoffe für die Hosen und helle Stoffe-meist mit karierten oder linierten Mustern- für die Hemden aller Männer der Kolonie ausgesucht. Parallel werden in einem zweiten Geschäft die Lebensmittel besorgt und verpackt.
Fenja schreibt weiter an den Berichten während das Stadtleben am Laden vorbeiwuselt. Jeder, der vorbei kommt, blickt uns offen und neugierig an – Europäer kommen in diese kleine Stadt wohl eher selten.
Als wir gerade aufbrechen wollen, kommt eine Angestellte des Stoffladens auf uns zu und bittet uns zu einer "sehr armen Bettlerin“ mitzukommen. Wir blicken uns kurz an, nicken, steigen kurzerhand mit Meena in eine Motorriksha und fahren los. Leider können wir die alte Frau nicht selbst antreffen, nur ihre Familie ist vor Ort. Bestürzt erfahren wir, dass sie von den Angehörigen verstoßen wurde, weil sie zu krank ist, um Geld zu verdienen und damit ein "Esser" mehr in der Familie ist. Meena erklärt der Familie, dass dies ein sehr schlechtes Verhalten sei. Auch sie werden einmal alt sein und möglicherweise werden dann auch sie, durch ihr schlechtes Vorbild ihren eigenen Kindern gegenüber, dieses Schicksal erfahren. Die Familie hört aufmerksam zu, zeigt sich letztlich jedoch relativ unbeeindruckt von den Erläuterungen Meenas.
Schweigend fahren wir zurück zum Geschäft und dann mit dem Taxi in Richtung Jammikunta. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach, als wir plötzlich auf einen schlammigen Erdweg abbiegen und der Wagen über den unebenen Untergrund holpert. Jedes Mal, wenn der Weg besonders schlammig und die Erde weich wird, müssen wir aussteigen und Narcy lenkt das Auto langsam und vorsichtig durch die Schlaglöcher oder um Steine herum.
Schlangen traktieren die Menschen hier regelmäßig
Weit von der restlichen, gesunden Bevölkerung weg, wurden Leprabetroffene früher geschickt, denn man hatte Angst vor jeder Berührung mit ihnen. Heute sind einige Kolonien inzwischen näher an die stetig anwachsenden Städte gerückt, doch Jammikunta liegt immer noch weit außerhalb. „Ihr hättet die Umgebung hier früher sehen sollen“, meint Venu und erklärt uns, dass statt der Felder, die nun in einiger Entfernung das Dorf umgeben, früher alles Urwald war. Irgendwann mündet der Weg in die Kolonie und wir sehen das angelaufene, staubige Weiß der ersten Häuschen durch die Bäume blitzen. Wir halten und steigen aus.
Erstaunt blicken wir uns um. Zwischen gefällten Bäumen, riesigen Laubhaufen und großen herumliegenden Ästen führen schmale Trampelpfade zu den einzelnen Betonhäuschen, die jeweils aus einem einzigen Raum bestehen. Einige haben hellblaue Türen und wurden im letzten Jahr vom FriendCircle WorldHelp innen bereits renoviert, um einer fortschreitenden Zerstörung vorzubeugen. Andere allerdings verfallen langsam.
Die Bewohner erwarten uns schon, haben Matten auf dem Boden ausgebreitet, auf denen Frauen und Kinder sowie diejenigen mit den schlimmsten Deformationen sitzen können. Als die Motorriksha mit den Kleidern und Lebensmitteln eintrifft, beginnen die Männer alles auf eine große Plastikplane abzuladen, während wir einen kleinen Rundgang durch die Kolonie machen.
Wir fragen, warum all die vielen Bäume gefällt wurden. Offensichtlich gibt es zu wenig junge, kräftige Männer, die die Stämme wegräumen könnten. Der Mann meint schlicht „wegen der Schlangen“ und erst als er unseren fragenden Blick sieht, erklärt er, dass die Schlangen sich lieber in bewaldeten Flächen aufhalten, weil ihre Beutetiere (Frösche, Mäuse etc.) dort leben. Oft schlafen sie in den Bäumen oder räubern dort Nester. Es gibt viele giftige Schlangen hier und die Menschen haben große Angst, von ihnen gebissen zu werden. Das nächste Krankenhaus ist weit weg und eine Rettung oder Heilung daher unsicher.
Wir gehen wieder zurück zu den Menschen und setzen uns zu ihnen. Alexandra erklärt, dass wir ihnen eigentlich ein größeres Geschenk - das des frischen Wassers - durch die erneute Bohrung bringen wollten, dies aber aufgrund des Wetters nicht möglich ist. Fenja beginnt, jedem der vielen Menschen die für sie so wertvollen Nahrungsmittel und die Stoffe zu überreichen. während Alexandra Fotos macht. Der Präsident der Kolonie hat eine genaue Liste erstellt, damit jeder gleich viel erhält. Dabei bekommt eine Familie pro Kopf ein Paket, da größere Familien auch mehrere Bäuche füllen müssen. Besonders die Saris lösen bei den Frauen helle Begeisterung aus.
Die Dankbarkeit ist riesig
Eine Frau beginnt bitterlich zu weinen und wir spüren ihre Verzweiflung und die Trauer über all das Elend, das sie erleben musste. Auch sie hat keine Finger mehr und ihre Füße sind so sehr deformiert, dass sie kaum gehen kann. Immer wieder wischt sie sich mit ihren Armen über das Gesicht und trocknet ihre Tränen an ihrem alten Sari ab. Sie scheint nicht fassen zu können, dass wir von so weit her kommen, um ihr Lebensmittel und einen Sari zu überreichen. Nahe bei uns bleibt sie sitzen, denn sie kann all die Sachen nicht selbst tragen. Später wird ihr jemand helfen.
Es beginnt schon zu dämmern, als die Verteilung beendet ist. Viele der Menschen kommen noch einmal langsam auf uns zu gelaufen, gestützt auf Stöcke oder jüngere Menschen. Ihre Worte sprechen sie auf Hindi – doch Venu und Meena sind gerade mit Organisatorischem beschäftigt und so können wir ihren Dank und die Herzlichkeit nur spüren. Die alte Frau beginnt wieder zu weinen und zittert am ganzen Körper, als Fenja sie noch einmal umarmt.
Eine Kobra
Viele Male schon werden wir von einem der wenigen jüngeren Männer gedrängt, die Hütte seines alten und kranken Vaters aufzusuchen. Es ist stockdunkel und nur durch das Licht unserer Handys können wir die Pfade nur erahnen. Während Venu laut mit dem jungen Mann schimpft, weil er Bedenken wegen der Schlangen hat und dass wir auf eine von ihnen im Dunkeln versehentlich treten könnten, ringt sich Meena schließlich dazu durch festzustellen: „Lasst uns kurz nachsehen, was er uns zeigen will.“ Wir versuchen Schritt zu halten mit den Männern, die sicher über Stock und Stein gehen, und schon weit voraus laufen.
Am hintersten Ende der Kolonie steht noch eine einzelne Hütte, die langsam verfällt. Erschrocken blicken wir uns in dem Zimmer des alten Mannes um. Es gibt weder einen festen Boden, noch verputzte Wände und der rohe Beton bröckelt verschimmelt von der Decke. Überall stehen Eimer verteilt, in die geräuschvoll das Wasser des letzten Regens tropft. Ein hochbetagter, spindeldünner Mann sitzt auf einem alten verstaubten Feldbett, stützt sich auf seinen Stock und blickt uns klagend an. Mit dem Sohn besprechen wir, dass er den Vater sofort mit zu sich in sein Haus nehmen muss – er nickt und verspricht es noch heute Nacht zu tun. Wir können nicht recht verstehen, warum er in einem eigenen kleinen Zimmer lebt. Auch den alten Mann hat die Krankheit Lepra entstellt und er wirkt nicht ansprechbar.
Gedankenverloren gehen wir gemeinsam, einer nach dem anderen wieder den schmalen Pfad entlang zurück zum anderen Ende der Kolonie. Plötzlich kreischt Meena „snake!“ („Schlange!“) und wir zucken zusammen. Wenige Meter neben uns liegt gerade eine lange Schlange in der Tür einer Hütte und blitzt uns mit ihren Augen an. Meena schreit und hektisch gehen wir weiter, ziehen sie mit uns und versuchen so schnell und trotzdem so vorsichtig wie möglich die Sicherheit des Lichtes unseres Autos wieder zu erreichen. Der Weg kommt uns jetzt länger vor, viel dunkler und wir versuchen laut aufzustampfen, damit die Schlangen die Vibration unserer Schritte spüren sollen.
Venu ist schockiert, als er erfährt, dass wir tatsächlich eine Schlange gesehen haben. "Es ist zu riskant durch die Dunkelheit zu gehen", bekräftigt er nochmal, während die Bewohner aufgeregt berichten, dass der grau-schwarze Körper der einer Kobra war. Mehr und mehr ahnen wir, was es bedeuten muss, hier zu leben…
Wir verabschieden uns und als wir wieder im Auto sitzen, diskutieren wir noch lange darüber. Meena erzählt Geschichten von Schlangen, die von einem Baum auf ihren Vater gefallen sind oder nachts über die schlafenden Bewohner der Kolonien kriechen.
Als wir wegen der schlechten Straße wieder aus dem Auto in die Dunkelheit aussteigen müssen, haben wir alle ein mulmiges Gefühl und sind froh, als Narcy uns wieder einsteigen lässt.
Im Hotel angekommen schlafen wir bald ein, während wirre Bilder uns an all die Erlebnisse des heutigen Tages erinnern.
Mi 06.07.2016 - 22:05, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Tag 4 - 30.06.16 Delhi, Hyderabad, Morampudi
Mitten in der Nacht klingelt der Wecker - es ist erst 2.30 Uhr. Unten in der dunklen Lobby warten Venu und Prabhu schon auf uns. Wir steigen ins Auto und bald sind wir unterwegs zum Flughafen.
Es ist dunkel draußen. Nur wenige hohe Straßenlaternen erhellen die Nacht. Überall auf den Gehsteigen, unter Gebäudevorsprüngen oder auf Verkehrsinseln sehen wir im Licht der Scheinwerfer Menschen schlafen, manchmal auf einer Art Feldbett, auf Zeitungen oder Plastikplanen oder einfach auf der blanken Erde. Ganze Lager obdachloser Menschen, die wohl zum eigenen Schutz gemeinsam an einem Ort übernachten, erstrecken sich teilweise weit in die Dunkelheit. Manche sehen aus, als wären sie einfach dort eingeschlafen, wo sie den Tag verbracht haben.
Ab und zu läuft ein Hund vor uns über die Straße, ansonsten bleibt es still. Indien schläft.
Einige Stunden später sitzen wir im Flugzeug und bemühen uns, trotz der Enge etwas auszuruhen, während Alexandra ihren Laptop auspackt und weiter an den Berichten arbeitet. Zwei Stunden und 20 Minuten dauert die Reise nach Hyderabad.
Vor dem Flughafen fährt ein Auto vor, aus dem uns eine junge Inderin freundlich zulächelt. Meena, unsere Freundin, die seit Jahren die Projekte des FriendCircle WorldHelp unterstützt, springt aus dem Auto und begrüßt uns herzlich. Rasch stopfen wir unsere Taschen in den kleinen Kofferraum und steigen ein. „Das ist Narcy“, unser Fahrer für die nächsten Tage, stellt Meena den jungen Mann im Taxi kurz vor.
Eigentlich wollten wir heute zwei Lepradörfer besuchen, doch der Weg zu Jammikunta, der Kolonie, in welcher der FriendCircle WorldHelp im vergangenen November einen Brunnen gebohrt hatte, ist aufgrund des vielen Regens heute nicht passierbar. Wir sind etwas traurig über diese Meldung, denn der Brunnen, der noch im November so reichlich sauberes Wasser sprudelte, war vor kurzem unterirdisch kollabiert und muss dringend nochmals neu gebohrt und mit Metallrohren in der Tiefe verstärkt werden. Das Wetter hatte gut ausgesehen. Doch gestern abend begann es in Strömen zu regnen. Nun kann weder die Bohrmaschine den Ort erreichen, noch kann in den aufgeweichten Boden gebohrt werden ohne Gefahr zu laufen, dass die Erdmassen wieder zusammenfallen. Wir müssen unseren Plan ändern!
Aufgrund einer Empfehlung unserer Freundin Geeta werden wir kurzentschlossen eine Schule besuchen, die 158 Kinder aus unterprivilegierten Verhältnissen kostenfrei unterrichtet und beherbergt.
Auf dem Weg in das fünf Stunden entfernte Morampudi ragen heute keine riesigen grauen Gebäude neben uns in den Himmel sondern grüne Ebenen und Palmen erstrecken sich weit bis zum Horizont. Bunte Saris hängen in üppigen Sträuchern zum Trocknen. Ziegenherden ziehen an uns vorbei und dunkelbraune Wasserbüffel suhlen sich in den nass-schlammigen Feldern. Eine Affenmutter sitzt mit ihren vier Kindern auf dem Dach eines verlassenen Bahnhofs.
Am Straßenrand verkaufen Menschen Früchte, Gemüse und gelegentlich aufblasbare Schwimmtiere vor armseligen Hütten.
Die Landschaft wirkt idyllisch, bis auf die riesigen Firmen, Pharmaziekonzerne und Tierzuchtanlagen, die einen starken Kontrast zu den kleinen Behausungen und den ansonsten frei herum- laufenden Kühen und Schweinen bilden.
Viele Häuser verfallen in ländlichen Teilen wie diesen, so auch hier. Die jungen Menschen zieht es aus Mangel an Arbeit in die Großstädte wie Delhi oder Mumbai, in der Hoffnung, dort eine Zukunft zu finden. Die meisten werden enttäuscht und ihre Erwartungen keineswegs erfüllt. Wie Rajas Mutter leben sie dann in Armenvierteln oder obdachlos auf der Straße.
Als wir die Schule erreichen, erwarten uns der Direktor und seine Familie bereits gespannt. Wir freuen uns, dass wir zum Tee und einem kleinen Mittagessen eingeladen werden. Frisch gestärkt beginnen wir den Rundgang durch die Gebäude.
Der Direktor Mr. Hemachandu berichtet uns, dass sein 82-jähriger Vater vor 36 Jahren selbst die Lepra überwinden konnte. Aus der Erfahrung heraus, wie leidvoll diese Krankheit sein kann, gründete er mit der finanziellen Hilfe eines Arztes aus Dänemark eine kleine Klinik zur Behandlung von Lepra, Tuberkulose und Aids-Patienten.
Mr. Hemachandu hatte später den Wunsch, seinen Vater bei seiner noblen Arbeit zu unterstützen und weitete das Konzept auf eine private Schule mit etwa 1000 Kindern aus.
158 Schülerinnen und Schüler werden derzeit aus armen Familien mit AIDS oder leprabetroffenen Eltern kostenfrei beherbergt und unterrichtet. Manche von ihnen sind bereits in jungen Jahren Vollwaise. Die Fächer werden hauptsächlich in der Amtssprache Englisch gelehrt, was für die betroffenen Kinder eine großartige Chance bedeutet. Da sich in Indien auf eine freie Ausbildungsstelle oft Hunderte oder gar Tausende Jugendlicher bewerben, ist die Beherrschung der Sprache Englisch für diese Kinder die „Tür“, um dem Teufelskreislauf der Armut zu entkommen.
Unterkunft, regelmäßige Mahlzeiten, Kleidung und alle anderen lebensnotwendigen Dinge erhalten sie von der Schule. Obwohl für die übrigen Schulplätze Gebühren eingehen, werden sich der Direktor und sein Vater, ohne Unterstützung von Dritten, bald entscheiden müssen, ob entweder die Klinik oder die Schule geschlossen werden muss, denn jeden Monat ist es ein schwieriges Ringen, die vielen notwendigen Ausgaben decken zu können.
Mr. Hemachandu führt uns durch die Räume des einfachen Krankenhauses. In einem der Zimmer treffen wir auf das 9-jährige Mädchen Ambika, dessen lange grazile Finger durch die Lepra bereits völlig verkrümmt sind. „Durch eine Operation kann man das bessern, doch das Gefühl wird nie wieder vollständig in ihre Finger zurückkehren“, meint der Arzt, der neben Ambika auf einem Stuhl sitzt. In anderen Zimmern, auf einfachen Metallbetten, die eng aneinander gerückt in gedrungenen, weiß gestrichenen Räumen stehen, treffen wir auf weitere Patienten mit verbundenen Armen oder Beinen. Ein schlicht eingerichteter Operationsraum folgt, der aus nicht viel mehr als einer einfachen Liege, einer Lampe und einem Tisch besteht.
Im ersten Stock oberhalb der Klinik befindet sich die Schule. "Das Gebäude wurde von einer Organisation aus der Schweiz vor 36 Jahren gebaut", erzählt uns der Direktor. Unzählige Augen blicken uns in jedem Klassenzimmer neugierig an, als wir beim Rundgang durch die Gänge gehen. Tuschelnd stecken die Kinder ihre Köpfe zusammen und lächeln uns schüchtern an.
Als wir in das Schlafzimmer der Mädchen sehen dürfen, erschrecken wir. Es riecht modrig und ist stickig heiß in dem dunklen Raum. Die Decke bröckelt langsam auf die darunter stehenden Stockbetten. Zwei Gesichter starren uns überrascht aus der Dunkelheit an. Mr. Hemachandu erklärt, dass eine neue Unterkunft in Planung ist und die Mädchen derzeit in einem anderen Gebäude übernachten. „Hierfür haben wir bereits einen edlen Spender gefunden, der die Baumaterialien bereitstellt. Dafür sind wir sehr dankbar“, meint der Direktor.
Im Büro lernen wir dessen Vater kennen. Aufgebracht erklärt uns der ältere Herr, dass die indische Regierung offiziell verkündet hat, dass die Krankheit Lepra stark zurück gegangen und beinahe besiegt ist. Dieser Aussage zum Trotz gab es allein im Einzugsgebiet dieses Krankenhauses 600 neue Fälle innerhalb des vergangenen Monats, etwa ein Drittel der Betroffenen sind Kinder. Viele Fälle werden öffentlich nicht registriert, weil sich die Menschen immer noch vor der Reaktion und möglichen Diskriminierung durch ihre Umgebung fürchten. Während der alte Mann eindringlich von seinem Leben mit der gefürchteten Krankheit erzählt, werden alle im Raum still.
Bisher hatten sie Unterstützung von ein oder zwei ausländischen Organisationen, welche die Klinik finanziell unterstützten, doch es gelten staatliche Regularien für „Nicht-Regierungs-Organisationen“, denen sich die ausländischen Organisationen anpassen müssen, weshalb sie nun dankbar sind für jede noch so geringe Unterstützung der bedürftigen Kinder in der Schule.
Nach etlichen Überlegungen beschließen wir, dass der FriendCircle WorldHelp Essen für die Schulküche, Schuluniformen und Schuhe für die 158 Kinder aus AIDS- und leprabetroffenen Familien spendet.
Obwohl uns angeboten wird, dass wir hier übernachten können, entschließen wir uns dafür, noch heute zurück nach Warangal zu fahren, um gleich morgen früh mit unserer Arbeit dort beginnen zu können. Mindestens fünf weitere Stunden Fahrt liegen vor uns, denn in der Nacht können wir nicht schneller als etwa 60 km/h fahren.
Es beginnt zu regnen und trotz der Scheibenwischer können wir kaum noch etwas draußen erkennen. Langsam überkommt auch Narcy, unseren Fahrer die Müdigkeit und er fährt immer unruhiger. An einem Stand halten wir und bitten um einen Chai, der ihn wieder ein wenig aufwecken soll. „Wenn ich mit ihm rede, schläft er nicht ein“, meint Venu und als wir langsam einnicken, können wir die beiden noch lachen hören.
„Wir möchten etwas essen“, erklärt Venu prompt und wir steigen aus. Elf Uhr nachts ist es. Wir sitzen in dem halboffenen Raum eines Gasthauses, das eher einer Scheune gleicht. Hohe Stapel an Zwiebelsäcken türmen sich neben uns und unzählige Geckos (Indische Eidechsen) laufen über uns an Decke und Wänden entlang. Kurz erblicken wir den Schwanz einer Maus, doch sie ist scheu und verschwindet rasch hinter einen staubigen Vorhang. Mosquitos plagen uns und stürzen sich auf jede freie Stelle unserer Haut. Es ist eine Wohltat wieder im Auto zu sitzen.
Etwa eine Stunde später erreichen wir die Stadt Warangal und damit das Hotel. Ein langer Tag endet.
So 03.07.2016 - 20:50, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Tag 3 - 29.06.16 Delhi
Heute werden wir mit Sunny unterwegs sein, einem indischen Freund, der uns seit Jahren begleitet und hilft, wo er kann. Ursprünglich aus gebildetem Haus, war er doch aus vielerlei Gründen selbst lange Jahre ein „Straßenkind“ gewesen, hatte kaum Kontakt zu seiner Familie und konsumierte viele Arten von Drogen. Sunny kennt das Leben auf der Straße von Grund auf und er weiß, welche Härten die Menschen durchgehen.
Aufgrund seiner reichen Erfahrung kümmert sich Sunny heute selbst um Menschen, die durch unglückliche Umstände in Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen geraten sind.
Mit seiner „Familie“ zusammen, wie er die etwa 40 Personen nennt, die in seinem kleinen „Rehabilitationszentrum“ wohnen, das er selbst gegründet hat und seit etwa drei Jahren leitet, lebt er unter bescheidensten Umständen. Die kargen Räume gleichen eher einer Art Scheune am Rand New Delhis als einem Haus, wo Menschen ein neues Leben beginnen sollen.
Den Männern aller Alterklassen ist Sunny ein Bruder geworden, ein Familienmitglied, das sich besser als jeder andere in ihr Leben einfühlen kann.
Als Alexandra bei ihrem Aufenthalt im November 2015 Sunny zum ersten Mal in seiner Einrichtung besuchte, erklärte er seine Prinzipien von Disziplin und besonderen Lerninhalten, die den „Patienten“ die Hoffnung auf ein besseres Leben, aber auch die Energie geben sollen, ihr Leben selbst wieder in die Hand zu nehmen.
Der Tagesablauf im Zentrum ist straff, das Essen einfach, doch der Umgang liebevoll. Sunny ist ein Vorbild. Mit seiner Anwesenheit zeigt er allen, dass sie ebenfalls schaffen können, was er bereits erreicht hat. Ein Leben ohne Abhängigkeit, frei von Drogen.
Sunny ist ein verantwortungsbewusster Mensch. Nur für etwa die Hälfte seiner Schützlinge bekommt er Geld für Essen und Miete von deren Verwandten. Von den anderen erhält er keinen Beitrag, weil sie selbst so arm sind, dass sie gerade über die Runden kommen.
Immer wieder übersteht er Schwierigkeiten und Probleme im Alltag, die er lösen muss, damit er diesen „Ort der Hoffnung“ für jene beibehalten kann, die ansonsten von allen aufgegeben sind.
Einer von ihnen ist Raja, ein 10-jähriger Junge. Raja war ein „Schnüffelkind“. Um sein Schicksal zu vergessen, atmete er mit anderen Kindern regelmäßig die Dämpfe von Klebstoff aus Plastiktüten ein. Dies betäubt die Sinne und lässt zumindest für Stunden die Welt um sich nicht mehr so hart erscheinen.
Die Müllkippe, auf der Raja seit Jahren mit seiner 34- jährigen Mutter Sultana lebt, ist sein Zuhause, seit er mit der Familie vor Jahren das Heimatdorf verlassen hat, weil der Vater keine Arbeit finden konnte. 2012 verstarb der Vater an einer Krankheit. Da die Mutter von früh morgens bis spät in der Nacht arbeiten muss, fehlte ihm die Bezugsperson.
Als Sultana erfuhr, dass ihr Sohn Drogen nimmt, wendete sie sich in ihrer Verzweiflung an Sunny. Seit etwa einem Jahr lebt Raja nun bei Sunny und wie einem großen Bruder weicht er ihm nicht mehr von der Seite. Heute trägt Raja ein hellgelbes Hemd und hat die Haare ordentlich zurück gekämmt, man kann ihm seine traurige Vergangenheit nicht mehr ansehen.
Wir wollen die Mutter von Raja besuchen und Sunny hat ihr bescheid gegeben, dass sie heute von der Arbeit zu Hause bleiben solle.
Auf der Fahrt sehen wir vor unserem Autofenster wieder viele von Armut betroffene Menschen. Zwei Kinder mit zerzausten Haaren spielen mit einem kleinen Korb, an den sie eine Schnur gebunden haben und sich gegenseitig ziehen. Im Hintergrund sitzen Erwachsene auf ihren einfachen Holzbetten unter der Brücke und unterhalten sich.
Die Armut scheint in Indien überall präsent.
Direkt daneben befindet sich eine kleine Verkehrsinsel, auf der viele Maiskörner liegen, hingeworfen, um die unzähligen Tauben zu füttern, die hier eine einheitliche graue Masse bilden. Der Verkehr kommt immer wieder zum stehen und es dauert lange bis Sunny wieder ein kleines Stück weiterfahren kann. Während wir warten, kommen oft Kinder und Erwachsene vorbei, klopfen an die Scheiben und wollen uns Luftballons, Sonnenschutzblenden fürs Auto oder Kokosnussscheiben verkaufen. Den ganzen Tag laufen sie von Autofenster zu Autofenster und versuchen wenigsten ein paar Rupien zu verdienen. Nachts schlafen sie unter der Betonkonstruktion der Metro oder unter Autobahnbrücken.
Irgendwann biegt Sunny schließlich von der großen Straße ab und nur wenige Nebenstraßen weiter stehen wir plötzlich vor der Müllhalde.
Raja läuft eilig voraus und wir folgen ihm und Sunny auf einem kleinen Trampelpfad über Hügel von Müll und von Exkrementen von Tieren.
Wir laufen vorbei an unzähligen Hütten, die man kaum von der restlichen Umgebung unterscheiden kann, denn auch sie sind gebaut aus allem, was man im Müll finden kann – zusammengestückelt aus Holz und Plastik und ein wenig Wellblech.
Wir werden in eine Hütte gebeten. Rajas Mutter betritt den Raum. Sultana ist eine gedrungene Frau, die ihre Haare ordentlich zusammengebunden hat und uns etwas schüchtern anlächelt.
Sultana weiß, dass wir gekommen sind, weil wir Raja zur Schule schicken möchten. Sie ist glücklich darüber und erzählt, dass Rajas Vater immer hart dafür gearbeitet hat, ihm eine gute Schulbildung zu ermöglichen.
Mit etwa 15 Stunden Arbeit täglich- 12 Stunden als Verpackerin in einer Sockenfabrik und vier Stunden Hausarbeit in drei Familien - verdient sie umgerechnet 67€ im Monat, 20 Cent in der Stunde.
Ihre 14-jährige Tochter lebt bei Sultanas Eltern auf dem Land und nachdem sie die Miete für die Hütte, in der sie lebt, bezahlt hat- etwa 1000 Rupien (ca. 14€) schickt sie einen großen Teil des verdienten Geldes nach Hause. Für Rajas Schulbildung bleibt nichts mehr übrig.
Um Sultana unter die Arme zu greifen übergeben wir ihr etwas Geld für ein Paar Sack Reis und ein Zugticket, damit sie nach langer Zeit wieder einmal ihre Tochter besuchen und bei ihrer Familie nach dem Rechten sehen kann.
Wie Sultana ergeht es vielen Menschen hier. Mindestens 300 Familien wohnen auf dem relativ kleinen Grundstück, die Hütten eng aneinander gebaut. Menschen, die auf dem Land keine Arbeit finden, hoffen in den großen Städten Geld verdienen zu können. Die Folge sind Armutsviertel allerorts.
Immer wieder stehen Frauen und Kinder aus der Nachbarschaft hinter dem Vorhang, der als Tür dient. Mit unschuldigem Blick schieben sie den staubigen Stoff gelegentlich beiseite, um einen Blick vom Geschehen in Sultanas bescheidenem Zuhause zu erhaschen.
„Ihren Namen kann sie schreiben“, meint Sunny, als wir ihr einen Zettel entgegenhalten, auf welchem steht, dass der FriendCircle WorldHelp ihr eine Zuwendung übergibt. Raja steht still neben seiner Mutter und hilft ihr, als sie uns Chai serviert.
Sorgfältig malt Sultana einen Strich nach dem anderen auf das Papier und es dauert lange bis sie ihren kurzen Namen aufgeschrieben hat.
Nach einigen Stunden in der kleinen Hütte haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt und als wir nach draußen treten, blendet uns das grelle Sonnenlicht.
Wir laufen zurück zum Auto während ein Mann mit einem Holzstock eine Rinne gräbt-für die schwarze, dickflüssige Brühe, die in die Hütten zu laufen droht.
Als wir die Müllhalde gerade verlassen wollen, rennt eine Herde kleiner Ferkel auf uns zu. Neugierig strecken sie uns ihre Nasen entgegen.
Wieder im Taxi sitzen wir gedankenversunken neben einander und blicken aus dem Fenster. Wir halten spontan, denn Sunny und Alexandra haben etwas entdeckt.
Am Straßenrand stehen einige kleine Wägen, die beinahe wie überdimensionierte, selbst gebaute Kinderwägen aussehen, in denen jeweils ein älterer Mensch sitzt.
An Lepra erkrankt verbringen sie ihr ganzes Leben in diesen Fortbewegungsmitteln – angewiesen auf die Hilfe vorbeikommender Menschen. Schon seit Jahren unterstützt der FriendCircle WorldHelp diese Menschen mit Kleidung und etwas Geld. Freundlich lächeln sie und falten ihre Hände zum Dank.
Vor dem Hotel springt Fenja aus dem Wagen, verabschiedet sich von Sunny und Raja und läuft in das Hotel, um weiter an den Berichten zu arbeiten. Die Dokumentation unserer Arbeit hier nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Alexandra und Sunny müssen noch einmal mit dem SIM-Kartenverkäufer sprechen, da es Probleme mit der indischen Telefonkarte gibt. Später treffen wir uns wieder im Hotel und beginnen zu packen. Morgen früh müssen wir bereits um drei Uhr nachts startklar sein, denn um fünf Uhr fliegt unsere Maschine nach Hyderabad. Etwa vier Stunden dauert heute unsere Nacht.
Sa 02.07.2016 - 08:00, geschrieben von Fenja & Alexandra, veröffentlicht von Frank
Erste Berichte - Team jetzt im Süden unterwegs
Nachfolgend die ersten beiden Berichte von Anreise, Ankunft und den ersten beiden Tagen in Delhi und Umgebung. Aktuell sind Alexandra und Fenja im Süden in der Nähe von Hyderabad unterwegs. Weitere Berichte und Fotos folgen bald... Frank
26.06.16 Abfahrt, Bamberg und Tag 1 – 27.06.16 Delhi
Bunte Mützen zwischen Frankfurt und Delhi
Um halb drei Uhr nachmittags treffen Alexandra und Fenja sich in Bamberg, um dann mit dem Zug zum Flughafen nach Frankfurt zu fahren. Wir schleppen, ziehen und schieben die großen Säcke voll mit den bunten Strickmützen unserer Strickfreundinnen neben unseren anderen Gepäckstücken her, um sie nach zweimaligem Umsteigen und dem Weg durch den halben Flughafen am Schalter von „Air India“ abzugeben. Um kurz nach neun startet schließlich unser Flugzeug und bald befinden wir uns hoch am Himmel irgendwo zwischen Frankfurt und Delhi.
Fünf Uhr früh (nach deutscher Zeit) ist es, als wir müde aus dem Flugzeug steigen. Langsam gehen wir den bunt gemusterten Teppichboden der Ankunftshalle des „Indira Gandhi“- Flughafens entlang, ziehen in einer Toilette die traditionell indische Kleidung (gleich wie in Nepal) an und folgen dann den Pfeilen zur Immigration.
Unsere Ausweise werden gestempelt und wir laufen weiter zum Gepäckband, ziehen nach einander alle unsere Taschen vom Band und treten aus der Flughafenhalle.
Eine Wand aus Hitze
Es scheint, als laufen wir gegen eine Wand aus Hitze und Luftfeuchtigkeit und schon nach dem kurzen Weg zum Taxi sind wir wie schweißgebadet.
Die gut ausgebaute Straße am Flughafen erinnert uns beinahe an unsere deutschen Schnellstraßen – wären da nicht die Kühe, die bereits kurz nach dem Flughafengebäude gemütlich das Gedrängel durchqueren.
Die Straßen werden immer überfüllter, je näher wir dem Ort unserer Unterkunft kommen. Große, teilweise verspiegelte Gebäude, hohe Mauern und einfache, bröckelnde Plattenbauten, in denen viele kleine Wohnungen Platz finden, säumen den Straßenrand.
Immer wieder wird das Bild unterbrochen von kleinen Ständen der Straßenverkäufer, auf denen sich grüne Papayas stapeln. An einer überirdischen Wasserleitung tummeln sich Gruppen von unbekleideten Straßenkindern, teilweise mit sehr zerzausten Haaren und Frauen, die sich dort waschen. Es ist nicht zu übersehen: Indien ist ein Land starker Kontraste, wohin man auch blickt!
Smog- graue Wolkendecke über der ganzen Stadt
Die Stadt um uns herum versinkt im graugelben Nebel des Smogs und es ist kaum möglich, weiter als bis kurz hinter die erste Häuserreihe zu sehen.
Der breite Mittelstreifen zwischen unserer Straße und der Gegenfahrtrichtung bietet etlichen Menschen Raum für kleine, selbst gebaute Zelte aus blauen Plastikplanen, unter welchen sie Schutz finden. Kleine Beete mit staubigen Pflanzen sind um die Behausungen herum angelegt.
Stammhotel in Karol Bagh
Als wir schließlich das Hotel im Stadtteil Karol Bagh in New Delhi erreichen, müssen wir aufgrund der frühen Ankunftszeit noch ca. eine halbe Stunde warten, bis unser Zimmer fertig ist und wir das Gepäck hineinstellen können.
Der Aufzug, der uns in den dritten Stock bringt, rattert merkwürdig und das elektronische Display fällt beinahe aus seiner Halterung heraus. Die Zahlen darauf lassen sich nur noch erahnen, in welchem Stock man sich befindet. Knarzend hält er zunächst ohne Grund im ersten Stock, fährt aber dann schließlich doch in den dritten weiter.
Dort heißt es wieder einige Minuten warten, denn keiner der netten Inder hat daran gedacht, den Zimmerschlüssel mit nach oben zu bringen.
Notwendige Besorgungen
Nach einer kurzen Pause treten wir wieder nach draußen, um indische Rupien zu besorgen und die Telefonkarten aufzuladen, vorbei an vielen Kleidungsständern, die T-Shirts für etwa 1,50 Euro anbieten.
Laut hupend fahren Motorräder, Rikshas, Autos und Fahrräder an uns vorbei und wir drängen uns zu den vielen Menschen auf den Gehsteig. Dort flicken Leute Schuhe, andere verkaufen Essen, Kleidung oder billigen Plastikschmuck und wieder andere warten einfach auf den Bus. Ab und zu stolpern wir über den unebenen Gehsteig und weichen großen, staubigen Löchern aus, während wir uns Schals vor den Mund halten, um die dichten Abgase der Autos nicht ungeschützt einzuatmen.
Wir wollen in einem kleinen Supermarkt noch einige notwendige Dinge besorgen.
Die Hitze ist nach dem fehlenden Schlaf der vorangegangenen Nacht noch anstrengender als sonst und wir beschließen, nach den Besorgungen den heutigen Tag etwas mehr auszuruhen, da wir bereits morgen früh um sieben, zusammen mit Venu, ein Dorf mit leprabetroffenen Menschen besuchen werden. Allerdings sind wir nicht ganz alleine. Einige fliegende Ameisen haben sich in unseren Betten verirrt...
Tag 2 – 28.06.16 Delhi, Rohtak
Von dem schrillen Klingeln unseres Zimmertelefons werden wir unsanft aus dem Schlaf gerissen. Wir haben gestern Abend noch an der Rezeption nachgefragt, ob wir im Hotel bereits früh am Morgen Geld wechseln können. Die Wechselstube öffnet erst ab 10 Uhr – was unnötigen Zeitverlust für uns bedeuten würde. Die Stimme des Rezeptionisten erklärt uns am Telefon, dass wir hier Geld wechseln können. Nach einigen Diskussionen um den Wechselkurs sind wir uns schließlich einig und Alexandra läuft kurz nach unten, um die Währungen zu tauschen.
Nachdem wir mit Plastikbecher und Eimer geduscht haben, gehen wir gemeinsam nach unten und treffen beim Frühstück auf unseren Freund Venu und Prabhu, der uns heute fahren wird.
Als wir vor die Tür des Hotels treten, empfängt uns Indien mit einer Dusche – es regnet. Wir sind etwas erleichtert, weil uns die unerträgliche Hitze noch für einige Stunden erspart bleibt. Der Taxifahrer lenkt den Wagen geschickt durch die engen Gassen und bald erreichen wir eine größere Straße, die uns nach Rohtak bringen wird. Dort wollen wir heute ein Lepradorf besuchen.
Während der Fahrt blicken wir schweigend aus dem Fenster. Indien zeigt uns das Bild der „aufstrebenden Wirtschaftsmacht“, wie es uns in den Medien oft suggeriert wird: Straßenkinder suchen Schutz vor dem Regen unter einem Dachvorsprung, Menschen schlafen unter Brücken oder selbst gebauten Zelten. Andere suchen verwertbare Dinge in riesigen Müllhaufen. Was an Essbarem zu finden ist, wird oft gleich gegessen.
Venu erzählt uns von dem Dorf, das wir heute besuchen wollen. „Viele der Menschen dort sind schon alt: 60 Jahre... – nicht alt, finden wir! „Ja, aber aufgrund der Krankheit Lepra sehen sie viel älter aus, mindestens wie 80“, meint Venu und erklärt uns, dass viele durch körperliche Deformationen entstellt. Vielen fehlen Finger und Zehen, manchmal Teile von Armen oder Beinen. Oft sind die Augen geschwollen, tränen pausenlos oder der Nasenknochen ist zurückgebildet. Nach Heilung der Krankheit bleibt die Behinderung bestehen und nicht selten bilden sich Folgekrankheiten aus, unter denen die Betroffenen leiden.
Wenn man ihnen äußerlich die Lepra ansieht, wird ihnen im Alltag niemand Arbeit anbieten. Dann bleibt nichts anderes übrig, als zu betteln. Manchmal bekommen sie ein paar Rupien, manchmal etwas zum Essen, manchmal eine Hand voll Reis. Die Umstände, in welchen sie leben müssen, zwingen sie, nicht sehr auf die Bedürfnisse ihres Körpers zu achten.
Im Alter können sie nicht mehr betteln gehen und leben von den Spenden, die sie unregelmäßig von der in der Nähe lebenden Bevölkerung erhalten. „They eat whatever they get“, („Sie essen, was immer sie bekommen können“) sagt Venu. „...unabhängig, ob es ihnen schmeckt oder das Essen die nötige Hygiene aufweist.“
Wir fahren vorbei an großen Plätzen auf denen sich unsortiert der Müll stapelt und Alexandra erzählt von Kindern hier und auch Kindern im Kosovo und anderswo, die einfach die Reste aus den weggeworfenen Verpackungen essen. Was sie finden, essen sie, damit sie etwas im Bauch haben, denn der Hunger ist schlimmer.
Vor unserem Fenster ziehen die einfachen Häuser Delhis vorbei, die fast ein bisschen wie wahllos aufeinander gesetzte bunte Bausteine aussehen, weil jeder gerade da anzubauen scheint, wo es passt. Viele der Gebäude, die am Straßenrand stehen, werden als riesige Werbeflächen genutzt, frei handgezogene Schriftzüge weisen auf private Schulen, Handyverträge oder Supermärkte hin.
Einige der Straßen sind bereits nach dem kurzen Regen völlig überflutet und die wenigen Autos, die so früh schon unterwegs sind, mühen sich durch die riesigen Pfützen. Ein Mann transportiert an die 20 riesige blaue Fässer auf seinem Fahrrad, die weit über seinen Kopf hinaus ragen und mit Seilen zusammengehalten sind.
Wir fahren vorbei an großen, prunkvollen Gebäuden, auf denen „Banquet hall“ (Bankett Halle) steht und großen Resorts mit hohen Mauern.
„Das ist für die reichen Menschen“, sagt Venu, „die armen Menschen können sich das niemals leisten.“ Abgeschottet stehen sie da, umgeben von Zäunen und Mauern und suggerieren eine heile Welt. Ein wenig weiter in der gleichen Straße dann wieder die selbst gebauten Hütten aus Plastikmüll und Holzresten soweit das Auge reicht...
Zwischen all dem Trubel und Verkehr suchen Kühe Futter oder einen Platz zum Ausruhen – ihr Gleichmut scheint unerschütterlich. In einer schmalen Gasse erhascht Fenja einen kurzen Blick auf ein Dromedar, das eilig vor seinem Besitzer hergeht und einen großen Lastkarren zieht.
Vorbei geht es an Feldern, auf denen bunt gekleidete Frauen arbeiten und Männer Reispflanzen in die nasse Erde stecken. Die lange Autofahrt macht uns müde und bald dösen wir vor uns hin. Jedes Schlagloch im Boden lässt uns kurz auffahren...
Wir fahren in einen kleinen Innenhof, in dem ein paar Männer auf Plastikstühlen sitzen.
Sie warten auf uns, denn wir haben so eben das „Gandhi Kusht Ashram“ Lepradorf erreicht.
„Früher“, meint Venu, „waren die Leprakolonien immer weit weg von den Städten, oft sogar auf ehemaligen Friedhöfen angesiedelt, denn die Menschen hatten Angst vor engem Kontakt mit den Betroffenen. Heute wachsen die Städte jedoch mehr und mehr an und damit verringert sich automatisch die Entfernung von der von Lepra betroffenen Dörfer zur restlichen Bevölkerung.“ Trocken und staubig ist das Land auf dem die Menschen hier leben und nur ein wenig trockenes Gras und einige Bäume stehen auf dem Gelände. Die Häuser sind gemauert, aber viele scheinen schon beinahe auseinander zu fallen, wenn man sie nur ansieht. Manche sind verlassen, ihre Besitzer verstorben oder weggezogen – niemand hat die Kraft, sich um die leerstehenden Überreste aus Stein zu kümmern.
Wir werden willkommen geheißen und man führt uns durch das Dorf. Wir treffen auf ein größeres Gebäude, an dessen Tür ein Eisenschloss hängt. Hier befand sich einmal eine Weberei. Die Menschen konnten hier arbeiten und die gewebten Stoffe wurden zum Teil sogar ins Ausland exportiert. Doch viele, die das Handwerk verstanden, sind inzwischen entweder verstorben oder ihre Finger sind durch die Lepra mittlerweile so verkrümmt, dass ihnen ihre Behinderung nicht mehr erlaubt, dieser Arbeit nachzugehen.
Wir gehen weiter, vorbei an kleinen Betonhäuschen aus einem Raum bestehend. Eine Frau sitzt auf einem Feldbett im Freien, ihre Augen sitzen tief in den Höhlen und sind rot unterlaufen. Ihre Hände versuchen immer wieder die Fliegen zu verscheuchen, die um sie herum schwirren. Von ihren Händen hat die Krankheit nicht viel übrig gelassen...
Viele der Menschen, denen wir hier begegnen, besitzen keine Finger oder Hände mehr, humpeln oder können gar nicht mehr gehen.
Zwischen den tragischen Schicksalen lachen uns unbeschwerte Kinderaugen an, Fröhlich springen kleinere und größere Kinder um uns herum und reichen uns die Hand „Good morning! How are you?“ („Guten Morgen! Wie geht es dir?“) rufen sie uns etwas schüchtern entgegen. Während wir die Situation ruhig beobachten, kommt wartet, etwas entfernt von uns, ein hochbetagter Mann. In seinen Handflächen, an denen die Finger fehlen, trägt ein eine winzige Rose. „Sie ist aus meinem Garten“, erklärt er liebevoll und hält sie uns entgegen. „Arbeitest du selbst in dem Garten“, fragt ihn Alexandra. „Ja, ich kümmere mich jeden Tag, so wie ich es kann, um meine Pflanzen.“ Mit einem Stock, an dessen Ende eine Seite flach angespitzt ist, zeigt er uns wie er die völlig ausgetrockene Erde aufkratzt und so um die Pflanzen herum langsam lockert.
Wir sind tief beeindruckt und während Fenja die kleine rote Rose in ihren Händen betrachtet, erzählt er uns seine Geschichte. Mit etwa acht Jahren erkrankte er an Lepra. „Es begann mit roten Flecken“, erklärt er. Damals achtete man nicht besonders auf Veränderungen der Haut oder des Körpers. So kam es, dass die Krankheit ungehindert fortschreiten konnte. Sein Vater starb, als er noch sehr klein war. Seine Mutter als er 15 war. Da er nun niemanden mehr hatte, der sich um ihn kümmerte, verließ er sein Zuhause und begab sich in eine Klinik. Die Behandlungen dort griffen nicht und so verlor er durch Amputationen in den folgenden sechs Jahren alle Finger beider Hände.
Im einzigen kleinen Raum, in dem er jetzt wohnt, sehen wir Bilder seiner Frau. „Ich bin dann hierhergekommen. Später heiratete ich. Kinder hatten wir keine.“ Traurig berichtet er, dass seine Frau vor drei Jahren verstorben ist.
Aus seinen Augen rinnt immer wieder Wasser, sie wirken entzündet. Eine schwarze Sonnenbrille dient zum Schutz vor der starken Sonne. Mühsam schiebt er sie mit den beiden Handrücken auf der Nase immer wieder zurecht. Jemand bringt ihm etwas zu trinken. Der Henkel der Tasse ist groß genug, sodass er seine Handfläche hineinschieben kann.
Betroffen lauschen wir der Lebensgeschichte des alten Herrn und etwas beschämt vernehmen wir am Ende seiner Erzählung: „God will help you! Be always happy!“ – „Gott wird euch helfen! Seid immer glücklich!“ Wie klein erscheinen uns in diesem Moment die alltäglichen Schwierigkeiten unseres Lebens...
Die Kinder hier können eine Schule in der Nähe besuchen- ein Lichtblick, eine Hoffnung für die Zukunft, denn die enge Verbundenheit der Kinder zu ihren Familien lässt die Eltern hoffen, dass ihnen im Alter ebenfalls geholfen wird. Doch bisher müssen die meisten Menschen hier noch von dem leben, was sie auf der Straße erbetteln können, finden oder geschenkt bekommen. In vielen Behausungen sehen wir Körbe mit harten Broten unter den Betten stehen. „Wenn nichts anderes da ist werden die alten Brote mit einem Steinmörser gestampft und zermahlen, mit Wasser und etwas Zucker vermischt und dann getrunken“, erklärt Venu. „Regelmäße Nahrung ist unsicher und so beugen die Menschen größerem Hunger vor.“
Die kleinen, kargen Gärten werden durch einfache, selbstgebaute Zäune aus Ästen geschützt – Tiere könnten sonst die Pflänzchen frühzeitig wieder ausgraben oder fressen. „Manchmal gibt es Schlangen hier, aber sie verirren sich eher selten in die Häuser“, meint ein Mann.
Zaghaft und etwas schüchtern kommen immer wieder Kinder auf uns zu, reichen uns kleine Sträußchen und selbst gemalte Karten „Welcome to our home“ oder „Thank you for coming to our country“- „Willkommen in unserem Zuhause“ oder „Danke, dass ihr in unser Land gekommen seid!“
Für die 27 Erwachsenen und 13 Kinder hier wird der FriendCircle WorldHelp Nahrung spenden. Reis, Linsen, Öl ... und Seife. Der Preis für eines der Grundnahrungsmittel Indiens- den Linsen- ist in den letzten Jahren drastisch angestiegen. Viel zu hoch für die normale Bevölkerung! 2011 zahlten wir für ein Kilo Linsen noch etwa 40 Rupien, rund 50 Cent. Heute kostet die gleiche Menge mehr als zwei Euro.
„Ohne die unzähligen Spenden unserer vielen Freundinnen und Freunde auf der ganzen Welt wäre diese Unterstützung nicht möglich“, erklärt Venu den lauschenden Menschen. Sehr bescheiden drücken sie beständig ihre tiefe Dankbarkeit aus. Viele der Frauen trauen sich nicht, vor den Versammelten zu sprechen, aber als wir uns verabschieden, drücken sie unsere Hände, sehen uns tief in die Augen und danken für die Hilfe.
Wir steigen wir ins Auto und winken den Menschen zum Abschied.
Wir brechen in die Stadt auf und suchen dort einen Großhandel, der günstige Preise hat und uns zudem einen Mengenrabatt anbieten kann. Wir haben Glück. Nach den üblichen anfänglichen Diskussionen zwischen einigen Männern der Kolonie und Venu auf der einen Seite und dem Ladenbesitzer auf der anderen lässt der freundliche Verkäufer am Ende 60 Euro bei einer Gesamtsumme von etwa 1200€ nach. Auch er möchte gerne etwas beitragen. Darüber hinaus möchte er den Transport der Güter kostenfrei übernehmen.
Wir freuen uns, bedanken uns herzlich und machen uns auf den Heimweg.
Kommentare(4)
Hallo ihr zwei Lieben,
sehr ergreifend sowohl Bilder wie auch der Bericht.
" Gott wird euch helfen", da spricht der Mann das, was ich immer denke, wenn ich euere unermütliche Energie und
Krafteinsatz bei eueren Reisen bewundere.
Gott segne euch!!! Herzliche,liebe Grüße und " an festn fränkischen Drücker" Susanne
Liebe Grüße an Fenja und Alexandra, ich verfolge alles auf der Homepage, bin stolz auf euch wünsche viel Kraft und Erfolg. Bis bald.
Patin
Wahnsinn, was Menschen in ihrem Leben ertragen.
Das zeigt, welch ein Hoffnungsträger für sie der FriedCircle ist.
Drück euch zwei Tapferen!!!
Da war die Spinne wohl peanuts in Nepal.
Drück euch weiterhin die Daumen, dass alles gut geht.
Alles Liebe ihr zwei!!!!
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